Virtuelle Schönheit

Bei unseren Experimenten war auffallend, dass die Gesichter, die bei diesem Experiment am attraktivsten beurteilt wurden, in der Realität gar nicht existieren. Besonders deutlich wurde dies beim Kindchenschema-Experiment, bei dem sich zeigte, dass die meisten Versuchspersonen (unabhängig von ihrem Geschlecht!) solche Frauen am attraktivsten fanden, die ein Gesicht mit den Proportionen eines 14-jährigen Mädchens haben. Solche Frauen gibt es jedoch in der Realität nicht! Es sind reine Kunstprodukte - Ergebnisse moderner Computertechnologie.

Das gleiche gilt auch für die gemorphten Durchschnittsgesichter: Gesichter mit so glatter, reiner Haut, ohne den geringsten Makel gibt es nicht und kann es in der Realität auch nicht geben. Doch gerade diese Makellosigkeit ist es, die unsere Versuchspersonen so attraktiv fanden. Insofern lässt sich sagen: Die schönsten Personen existieren in der Realität gar nicht - sie sind nach bestimmten Prinzipien vom Computer berechnet worden.

So verwundert es auch nicht, dass unter den Gesichtern, die in einer Expertenbefragung von Mitarbeitern einer renommierten Münchner Modelagentur als geeignet für ein Model bezeichnet wurden, 88% (14 von 16) gemorphte Computergesichter waren. Nur zwei "reale Männergesichter" konnten mit diesen Computergesichtern mithalten, von den Frauengesichtern kein einziges! Nicht anders der Geschmack der Bevölkerung: 81% (13 von 16) der am attraktivsten beurteilten Gesichter waren mit dem Computer erzeugt.

Eine Auswahl von Gesichtern, die von der Modelagentur als geeignet für ein Model beurteilt wurden. Alle sechs Gesichter wurden vom Computer erzeugt und existieren in der Realität gar nicht.

Reale Gesichter können diesem Vergleich nicht standhalten. Dies wird auch deutlich, wenn man sich die Bezeichnungen der 7-stufigen Skala vor Augen hält, auf der die Gesichter bewertet wurden: Gerade einmal 3% der Originalgesichter erreichten im Durchschnitt das Urteil "eher attraktiv" - die Urteile "ziemlich attraktiv" und "sehr attraktiv" wurden von keinem einzigen Originalgesicht erreicht. Von den gemorphten Gesichtern hingegen wurden 30% der Frauen und 23% der Männer als "eher attraktiv" (oder attraktiver) bezeichnet.

Fast schon etwas erschreckend ist das Bild, wenn man die Verteilung der abwertenden Urteile betrachtet: Von den Originalgesichtern wurden 70% der Frauen und 79% der Männer als "eher unattraktiv", "ziemlich unattraktiv" oder "sehr unattraktiv" beurteilt (- und das bei einem Altersdurchschnitt der fotografierten Personen von 24 Jahren)!

Diese Frau fanden unsere Versuchspersonen am attraktivsten. Auch die Mitarbeiter der Modelagentur wählten sie als geeignet für ein Model aus. In Wirklichkeit gibt es diese Frau jedoch nicht - sie wurde von uns aus den acht attraktivsten weiblichen Originalgesichtern berechnet. Ihre Haut ist absolut perfekt und sieht eigentlich ziemlich künstlich aus. Doch gerade diese Makellosigkeit ist es, die die Versuchspersonen so attraktiv finden.

All dies deutet darauf hin, dass wir unsere Mitmenschen und uns selbst mit völlig unrealistischen Maßstäben messen. Wir vergleichen uns mit den schönsten Gesichtern der Welt, die durch die Medien allgegenwärtig sind. Sie begegnen uns im Fernsehen, in der Werbung, auf den Titelseiten von Zeitschriften, auf Plakaten und vielem mehr. Das Absurdeste dabei ist, dass es diese Gesichter, so wie sie dort zu sehen sind, in Wirklichkeit auch nicht gibt. Auch sie sind zumindest zu einem Teil "virtuell". Denn schon längst gibt es auf keinem Titelbild und in keiner Werbeanzeige mehr ein Gesicht, das nicht bis ins letzte Detail computertechnisch nachbearbeitet ist. Auf diese Weise wird eine Perfektion und Makellosigkeit erreicht, die selbst die abgebildeten Supermodels in Wirklichkeit bei weitem nicht besitzen.

So perfekt sah selbst Claudia Schiffer nie in Wirklichkeit aus. Ihr Gesicht wurde mit den üblichen Tricks nachbearbeitet, wie verschiedene Zeitschriftenredaktionen mittlerweile verraten: Die Haut bekommt ihre Makellosigkeit nicht nur durch Make-up, sondern v. a. mit Hilfe von Entstörungs- und Weichzeichnungsfiltern - dadurch verschwinden Mitesser, große Poren und kleine Fältchen. Größere Hautunreinheiten und Falten (z. B. Augenwinkel) werden manuell wegretuschiert. Alle Farben können beliebig verändert werden; d. h. die Zähne erhalten das strahlende Weiß, der Teint den richtigen Braun-Ton und das Blau der Augen wird intensiviert. Die Augen werden mit einem Scharfzeichnungsfilter geschärft - dadurch wirken sie lebendiger und interessanter. Besonders deutlich ist die Manipulation am Weiß der Augen, das stark aufgehellt wurde (vgl. v. a. ihr rechtes Auge, das leicht im Schatten liegt und eigentlich hellgrau aussehen müsste). Dadurch wirken die Augen größer, jünger und schöner (Bild vergrößern). Wer sich für die zahlreichen Tricks der Photoretusche interessiert oder es selbst lernen möchte, findet im Internet zahlreiche Anleitungen wie beispielsweise PhotoshopFacelift oder Websites von Grafikern, die die Verschönerung von Menschen am Computer als Kunstform begreifen und ihre Vorher-Nachher-Bilder präsentieren.

Aufsehen erregte auch vor einiger Zeit ein Foto der damals 43jährigen Julia Roberts (Bild vergrößern). Auf einem Werbeplakat für ein Make-up des Kosmetikherstellers Lancôme war ihr Gesicht so extrem stark am Computer retuschiert und digital perfektioniert worden, dass die britische Werbeaufsicht eine Irreführung der Kunden befürchtete und das Unternehmen zwang, die Kampagne zurückzuziehen.

Ein besonders drastisches Beispiel ist die Fotoretusche des Gesichts von Sheron Stone. Im Jahr 2006 warb die damals 48jährige für die Anti-Aging Linie "Capture" aus dem Hause Dior (Bild links). Durch digitale Bildbearbeitung wurde ihr Gesicht so stark verändert, dass sie eher wie eine 20jährige wirkt und kaum noch als sie selbst zu erkennen ist. Zum Vergleich: Sharon Stone, wie sie im selben Jahr tatsächlich aussah (Bild rechts).

Wie man an diesen Beispieln mit computertechnisch retuschierten Prominenten sieht, hat den größten Anteil am makellosen Aussehen eine glatte und reine Haut. Wie unrealistisch und puppenhaft die retuschierte Haut von medialen Schönheiten ist und wie weit entfernt von einer echten Haut, erkennt man am besten, wenn man zum Vergleich sein eigenes Gesicht in einem Kosmetikspiegel mit Vergrößerungseffekt anschaut. Hat man dann bei der eigenen Betrachtung gleichzeitig das Aussehen medial optimierter Schönheiten im Kopf, ist dies eine sichere Möglichkeit, mit dem eigenen Aussehen unglücklich zu sein.

Bei so viel perfektionierter Schönheit wundert es nicht, dass so viele Menschen von ihrem eigenen Aussehen oder dem ihrer Partner(innen) frustriert sind. Dieses Gefühl der Unzulänglichkeit sichert einem ganzen Industriezweig Umsätze in Milliardenhöhe. So ist es nicht erstaunlich, dass die Zahl der Schönheitsoperationen seit Jahren stetig zunimmt. Auch diesen Trend fördern die Massenmedien mit einer Berichterstattung, die den Menschen vorgaukelt, ein ein perfekter Körper - makellos und perfekt gestylt - sei für jeden machbar und nur eine Frage des Geldes und der richtigen Operation.

Gerade diese Kombination ist so fatal: Auf der einen Seite steht die ständig wiederholte Botschaft, Schönheit sei durch Kosmetik und ästhetische Medizin einfach herstellbar und jeder habe damit sein eigenes Aussehen in der Hand. Und auf der anderen Seite steht ein extrem unrealistisches Schönheitsideal, das wir für echt und realistisch halten, weil es uns die Medien täglich in Bildern vor Augen führen, das es aber in Wirklichkeit gar nicht geben kann.

Zum Glück setzt allmählich ein Umdenken ein. Der Einfluss der Medien auf die Virtualität unseres Schönheitsideals ist immer öfter in den Medien selbst ein Thema, und bereits in den Schulen wird diese Thematik angesprochen. Die Zeitschrift Brigitte beispielsweise startete im Jahr 2010 ein Experiment: Sie verzichtete auf die Abbildung von (zu gut) aussehenden Models und setzte stattdessen auf "normal" aussehende Frauen, die fototechnisch nicht retuschiert werden, da Umfragen gezeigt hatten, dass sich immer mehr Leserinnen von der ständigen Konfrontation mit perfekt aussehenden Frauen gestört fühlten. Die Frauenzeitschrift erregte mit dieser Aktion viel mediale Aufmerksamkeit und genoss große Anerkennung. Der Schritt wurde gar als kleine Revolution gefeiert. Mittlerweile ist die Revolution jedoch wieder beendet: Nach drei Jahren und stark gesunkenen Verkaufszahlen arbeitet nun auch die Brigitte wieder mit professionellen Models. Der Anblick normaler, hübscher Frauen sei den Leserinnen zu viel gewesen.

Ein anderes Beispiel ist der Kosmetikhersteller Dove, der mit mit seinen Werbekampagnen, in denen normalgewichtige Frauen statt dünner Models abgebildet werden, offensichtlich eine Marktlücke gefunden hat. Zumindest erregt er damit Aufmerksamkeit und man redet darüber (was aus Marketing-Sicht der erste Schritt zum Erfolg ist). Das freilich funktioniert nur, weil normalgewichtige Models dem allgemeinen Verständnis von Schönheit zuwider laufen.

Das Video "dove evolution" desselben Herstellers hat mittlerweile Kultstatus erreicht. Es Zeigt im Zeitraffer, wie eine passabel, aber nicht überragend aussehende Frau durch Kosmetik, Styling und anschließende Fotoretusche am Computer zur Plakat-Schönheit getrimmt wird. Das Video ist nicht nur ein gelungenes Beispiel für geschicktes Marketing - denn schließlich verdient ein Kosmetikheresteller ja selbst Geld damit, Produkte zur Steigerung der Schönheit zu verkaufen - sondern es zeigt in nur 60 Sekunden das breite Spektrum an Manipulationsmöglichkeiten, von denen die Medien täglich Gebrauch machen, um eine Schönheit vorzutäuschen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.

Das "dove evolution"-Video auf youtube:
http://www.youtube.com/watch?v=iYhCn0jf46U

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Buchtipps:

Hersey, George L. (1998). Verführung nach Maß. Ideal und Tyrannei des perfekten Körpers.
Eher geisteswissenschaftliches, kritisch hinterfragendes Buch mit einem interessanten Streifzug durch die Kunstgeschichte. 
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Naumann, Frank (2006). Schöne Menschen haben mehr vom Leben: Die geheime Macht der Attraktivität.
Unterhaltsames und flüssig geschriebenes Buch mit Schwerpunkt auf den sozialen Folgen von Schönheit im Alltag. 
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